

Von der Kohle zur Zukunft
Wie der Bergbau Hamm geprägt hat
Am 1. Januar 1975 wurden aufgrund des „Gesetzes zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Münster/Hamm“ die Gemeinden Bockum-Hövel, Heessen, Rhynern, Uentrop, Pelkum und Herringen Hamm zugeschlagen. Dadurch stieg die Einwohnerzahl auf über 170.000 Menschen und Hamm überschritt die Schwelle zur Großstadt.
Ziel der Reform war, leistungsfähigere Kommunen zu schaffen, die besser für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet waren – wirtschaftlich, infrastrukturell und verwaltungstechnisch. Besonders wichtig war das für Hamm, da die Stadt mit ihren Großschachtanlagen in kurzer Zeit massiv gewachsen war. Nun zeichnete sich ab, dass der Bergbau nicht mehr, wie seit Anfang des 20. Jahrhunderts, der Garant für Wachstum bleiben würde. Doch warum hatte der Bergbau eine so große Bedeutung in Hamm?
Bereits in der frühen Neuzeit war Hamm ein bedeutendes Verkehrskreuz: Handelswege der Hanse durchzogen die Stadt, lange bevor Steinkohle zum Wirtschaftsmotor wurde. Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte die Eisenbahn Hamm, binnen 15 Jahren liefen hier sechs Hauptstrecken zusammen. 1927 betrieb Hamm den größten und modernsten Verschiebebahnhof Europas.
Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte man dann unter Hamm ergiebige Steinkohlevorkommen. 1901 wurde durch Henri und Robert de Wendel mit den Schächten Henri (Heinrich) und Robert in Herringen die erste Hammer Zeche „de Wendel“ abgeteuft.
Die Fettkohle wurde direkt zu hochwertigem Koks verarbeitet und ersetzte im lothringischen Hütten-Konzern de Wendel minderwertigere Saarland-Kohle.
Ähnlich in Heessen, wo 1912 die Förderung auf der Zeche Sachsen begann, betrieben von der Mansfeldschen Kupferschieferbauenden Gewerkschaft. Ziel war die Versorgung der Mansfelder Verhüttung. Die von Industriearchitekt Alfred Fischer entworfene Anlage galt als eine der schönsten im Ruhrgebiet.
Schon 1902 war die Zeche Maximilian in Werries abgeteuft worden. Der geschätzte Kohlevorrat von 200 Millionen Tonnen führte zu groß angelegten Anlagen und Siedlungen. Doch wasserführende Mergelschichten behinderten dauerhaft den Abbau. Trotz aufwendiger Pumptechnik soff die Zeche immer wieder ab. Der Erste Weltkrieg verschärfte die Probleme, 1914 wurde die Förderung eingestellt.
1905 entstand in Bockum die Zeche Radbod, betrieben von der Bohrgemeinschaft Trier. Am 11. November 1908 kam es zu einer der schwersten Katastrophen im deutschen Steinkohlenbergbau: 350 Tote nach einer Schlagwetterexplosion. Als Konsequenz wurden erstmals elektrische Grubenlampen im Ruhrgebiet eingeführt.
Dörfer werden Stadt
Trotz solcher Rückschläge wuchs der Hammer Bergbau rasant, immer mehr Menschen kamen nach Hamm. Dörfliche Strukturen wurden durch Zechensiedlungen wie Vogelsang oder Isenbecker Hof aufgebrochen. Arbeiter kamen aus Schlesien, Tschechien, später auch aus der Türkei oder Jugoslawien. Bis in die 1980er-Jahre blieb der Steinkohlenbergbau das industrielle Rückgrat der Stadt. Gemeinsam mit der Rolle als Eisenbahnknotenpunkt prägte er die Wirtschaftskraft Hamms entscheidend. Doch ab den 1980er-Jahren geriet der Bergbau unter Druck: Billige Importkohle, strengere Umweltauflagen und politische Weichenstellungen führten zu ersten Schließungen – 1976 traf es die Zeche Sachsen. Die Auswirkungen waren gravierend: Zulieferer, Handwerksbetriebe und Dienstleister verloren ihre Basis. Arbeitslosigkeit und soziale Spannungen nahmen zu.
Strukturwandel nicht als Schicksal, sondern Chance
Statt Resignation brachte eine Landesgartenschau 1984 neue Hoffnung: Auf dem Gelände der Zeche Maximilian präsentierte NRW erstmals eine ehemalige Zechenbrache als Natur- und Erholungsraum. Das Maximilian-Gelände wurde dafür umfassend saniert, die alte Kohlenwäsche gestaltete Horst Rellecke zum Glaselefanten – heute das Wahrzeichen Hamms.
Das angrenzende Areal entwickelte sich rasch zum beliebten Baugebiet und zog junge Familien in den Hammer Osten. „Die Landesgartenschau war ein voller Erfolg“, erinnert sich Heinz-Martin Muhle, Ende der 1980er-Jahre Mitarbeiter und später Leiter des Stadtplanungsamtes Hamm. „Sie bewies, dass selbst tot geglaubte Industrieareale mit Kreativität und politischem Willen neues Leben erhalten können.“
Ökologie als Impulsgeber
Auch die Fläche der Zeche Sachsen wartete auf neue Nutzung. 1980 erwarb die Landesentwicklungsgesellschaft LEG das Gelände, doch zunächst blieb es ungenutzt. Erst ein geplanter Autoverladeplatz Ende der 1980er-Jahre weckte Widerstand – und neue Ideen. „Eine solche solitäre Nutzung ohne einen echten Mehrwert für Heessen wollten wir dort nicht. Daher wurde gemeinsam mit der LEG und dem Kommunalverband Ruhrgebiet ein Rahmenplan entwickelt, der inspiriert durch die Landesgartenschau und die Internationale Bauausstellung Emscherpark vor allem ökologische Aspekte vertrat“, so Muhle.
Das Ergebnis: Mit dem ÖkoZentrum NRW entstand ein deutschlandweit einzigartiges Kompetenzzentrum für ökologisches Planen und Bauen. Gleichzeitig wurde der Gewerbepark Sachsen geschaffen, vorrangig für Unternehmen aus dem Bereich ökologisches Bauen. Manfred Rauschen ist heute geschäftsführender Gesellschafter des Ökozentrums NRW und hat die Entwicklung von Anfang an begleitet: „Die Qualitätsanforderungen an die Entwicklung des Gewerbeparks und die dort entstandenen Gebäude waren einzigartig und könnten noch heute als Vorbild dienen.“
Zwischen 1992 und 2002 war Hamm auch Modellkommune im Projekt „Ökologische Stadt der Zukunft“ und wurde 1998 sogar als „Bundeshauptstadt für Natur- und Umweltschutz“ ausgezeichnet.
Wirtschaftsförderung und bürgerschaftliches Engagement
Obwohl aufgrund der Entwicklungen im gesamten angrenzenden Ruhrgebiet die Kohle- und Stahl-Krise bereits seit Längerem absehbar war, wurde in Hamm erst 1986 mit dem Ausbau bzw. dem Neustart der bis dahin rudimentären Wirtschaftsförderung begonnen. „Mann der ersten Stunde“ war Berthold Rinsche. „Wir haben zunächst eine Bestandsaufnahme gemacht, welche Betriebe und Gewerbeflächen es in Hamm überhaupt gibt und was fehlte“, erinnert sich der ehemalige Wirtschaftsförderer, der seit 2021 im Ruhestand ist. Neben dem Start des Themas „Technologietransfer“ in Hamm sollte zukünftig durch eine aktive Gewerbeflächenentwicklung unter anderem bei der sich in den 1980er-Jahren abzeichnenden Schließung der Zeche Radbod – 1990 verließ die letzte Kohlenlore das Bergwerk – gegengesteuert werden.
Die von der Stadt Hamm, der Montan-Grundstücksgesellschaft mbH (MGG) und der STEAG Walsum Immobilien AG gegründete Projektgesellschaft Radbod übernahm1996 die Vermarktung. In den denkmalgeschützten Gebäuden dagegen entwickelte sich etwas vollkommen anderes: Auf bürgerschaftlichem Engagement basierend entstand das Kulturrevier Radbod. Es ist heute ein Zentrum für innovative Kultur in Hamm unter Trägerschaft des Vereins Jugend & Kultur e. V.


Hamm - Eine Stadt im Wandel
Maximilianpark, CreativRevier Heinrich Robert, Gewerbegebiet Radbod und Gewerbepark Ökozentrum – wo in Hamm einst Kohle gefördert wurde, ist Neues entstanden. Ein Video mit historischen Fotos und aktuellen Aufnahmen.

Vorbild macht Schule
Ein Nebeneinander von Kunst, Kultur und Wirtschaft – dieses Konzept sollte erneut greifen, als 2010 die Zeche Heinrich Robert endgültig stillgelegt wurde und damit das Kapitel des aktiven Bergbaus in Hamm endete. Investor Jürgen Tempelmann, der bereits die ehemalige Zeche Fürst Leopold in Dorsten zum CreativQuartier entwickelt hat, erarbeitete gemeinsam mit der RAG und der Entwicklungsagentur CreativRevier Heinrich Robert ein maßgeschneidertes Konzept.
Danach ist das Zentrum des Geländes mit seinen denkmalgeschützten Gebäuden Unternehmen der Veranstaltungs-, Kreativ- und Gesundheitswirtschaft vorbehalten, während sich auf den ehemaligen Bergbauflächen kleinere Betriebe und Wohnbebauungen, eingebettet in eine moderne Gartenstadt, entwickeln können. Dabei wird das CreativRevier Pelkum, Herringen und Wiescherhöfen erneut miteinander verbinden, nachdem die Zeche sie voneinander isoliert hatte. Außerdem wird das CreativRevier Teil eines gesamtstädtischen Grünzuges, der sich vom Pelkumer Selbachpark über den Lippepark bis zum Kulturrevier Radbod zieht.
Fazit
Heute stehen die vier großen ehemaligen Bergbauflächen für einen letztendlich doch gelungenen Strukturwandel. Zwar konnten die Transformationen nicht den Verlust zehntausender Arbeitsplätze auffangen, doch haben die unterschiedlichen Strategien bei der Neubelebung derart starke Impulse auf die Gesamtentwicklung gegeben, dass Hamm heute unabhängiger von einzelnen Industriezweigen und damit krisenfester und zukunftszugewandter ist.

Zeche Sachsen
- Heessen
- 1912 – 1976
- maximale Förderung 1.217.015 Tonnen 1962
- max. ca. 4.200 Beschäftigte
- Besonderheit: Die übertägigen Anlagen wurden vom Architekten Alfred Fischer geplant und galten bis zu ihrem Abriss als eine der schönsten Industrieanlagen im Ruhrgebiet.

Zeche de Wendel
- ab 1937 Heinrich Robert
- ab 1988 Bergwerk Ost
- Herringen
- 1901 – 2010
- maximale Förderung als Bergwerk Ost 3.593.000 Tonnen 1998
- max. ca. 6.000 Beschäftigte
- Besonderheit: 64 Meter hoher Hammerkopfturm, 1953 nach Plänen von Fritz Schupp (Zeche Zollverein) erbaut

Zeche Maximilian
- Werries
- a1902 – 1914
- maximale Förderung 101.851 Tonnen 1913
- max. ca. 2.500 Beschäftigte
- maximale Förderung als Bergwerk Ost 3.593.000 Tonnen 1998
- max. ca. 6.000 Beschäftigte
- Besonderheit: Im Rahmen der Landesgartenschau 1984 wurde die ehemalige Waschkaue vom Architekten Horst Rellecke als Glaselefant gestaltet, der inzwischen zu einem auch überregional bekannten Wahrzeichen Hamms geworden ist.

Zeche Radbod
- Bockum-Hövel
- 1905 – 1990
- maximale Förderung 1.309793 Tonnen 1989
- max. ca. 2.000 Beschäftigte
- Besonderheit: Am 12. November 1908 ereignete sich auf Radbod eines der schwersten Grubenunglücke im deutschen Steinkohlenbergbau. 350 Bergleute verloren ihr Leben. Als Folge dieses Unglücks wurde im Deutschen Reich angeordnet, dass in Schlagwettergruben nur noch elektrische Sicherheitslampen statt der bisher üblichen Benzin-Sicherheitslampen eingesetzt werden durften.
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01/2025